Von Ansgar Lange
Seit Jahr und Tag wird über den Fachkräftemangel geklagt. Während es für ein großes Unternehmen in Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Köln oder München nicht schwer sein dürfte, potentielle Mitarbeiter in genügender Anzahl zu finden, sieht es „in der Provinz“ ganz anders aus. Konzerne können oft mit mehr Geld locken als kleine und mittlere Unternehmen. Und der so genannte Standortfaktor kommt bei ihnen auch nicht zum Tragen. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) http://www.sueddeutsche.de ist dem Thema unter der Überschrift „Der Charme der Provinz“ nachgegangen. Ein Beispiel: Hemer ist ein reizvolles Städtchen im Sauerland. Doch dies reiche nicht aus, so die SZ, um qualifizierte Arbeitskräfte nach Hemer zu locken. Der größte Arbeitgeber im Ort, der im Eigentum von Finanzinvestoren befindliche Badarmaturenhersteller Grohe http://www.grohe.de, habe sich deshalb im vergangenen Jahr entschlossen, seine Zentrale nach Düsseldorf zu verlegen.
Große Unternehmen und bekannte Marken wie Adidas, BMW oder Porsche kennen diese Probleme nicht. Mittelständler, selbst wenn sie „Hidden Champions“ und Weltmarktführer in einer besonderen Nische sind, haben es schwerer. Dass dieses Thema von großer Brisanz für die so genannte „Provinz“ ist, bestätigt Heiner Kleinschneider von der Wirtschaftsförderungsgesellschaft für den Kreis Borken http://www.wfg-borken.de. Kleinschneider kann dem Begriff „Provinz“ allerdings wenig abgewinnen. Die Bezeichnung sei zwar eingängig, wirke aber auch ein wenig abwertend. Zumindest in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht sei das Westmünsterland jedoch nicht „provinziell“.
„Es gibt in unserer Region zweifellos Nachteile im Vergleich zu Großstädten, zumindest ‚gefühlte’ Nachteile“, erläutert Kleinschneider. „Beim näheren Hinsehen stellen sich diese Nachteile aber oft als Fehlinformationen oder Vorurteile heraus. Manchmal kehren sich diese ‚Nachteile’ sogar in echte Vorteile. Entscheidend ist ja immer der Blickwinkel der Person, die eine Stelle sucht oder sich verändern möchte. Da wird das Westmünsterland, seine Lebensqualität und sein Wirtschaftspotenzial oft falsch eingeschätzt.“
Selbstverständlich sei der Kreis Borken keine internationale Metropole wie etwa München, Berlin oder Hamburg. „Natürlich gibt es hier nicht die weltweit bekannten Konzerne wie etwa BMW, Siemens oder Lufthansa, die gerade auf junge Hochschulabsolventen eine gewisse Anziehungskraft ausüben. Dafür hat das Westmünsterland andere Qualitäten, die die vermeintlichen Attraktivitäts-Vorteile der Metropolen sogar mehr als ausgleichen können“, so der Wirtschaftsförderer selbstbewusst.
Nicht nur Metropolen haben ihren Reiz
Dazu zählt er eine sehr gute Lebensqualität mit funktionierenden sozialen Strukturen, das Leben im Grünen, einen hohen Eigenheimanteil, hervorragende Bildungsangebote sowie ein umfangreiches Vereinsleben. Zudem gebe es eine sehr schnelle Erreichbarkeit der Metropolen, wie etwa zum Ruhrgebiet, Rheinland oder zu den Niederlanden mit ihren reichhaltigen Kulturangeboten, keine verstopften Straßen und die Nähe zu attraktiven Großstädten wie Münster, Osnabrück und Enschede.
In der Tat verfügt die Region über eine mittelständisch geprägte Wirtschaftsstruktur mit hoher Innovationskraft, Internationalität und weltweiter Ausrichtung, vielen so genannten „Hidden Champions“ in interessanten Nischenmärkten. Darunter sind zum Teil sogar Weltmarktführer. Weitere Positiva sind die enge Vernetzung mit Hochschulen, ein funktionierender Technologietransfer, gute Vernetzung der Unternehmen untereinander sowie bodenständige und verlässliche Personalstrukturen.
„Wer in der ersten Liga der Mittelständler Karriere machen will, sollte den Weg in die Provinz nicht scheuen“, bestätigt Christoph Hadder, Geschäftsführender Gesellschafter der Nießing Anlagenbau GmbH http://www.niessing.de in Borken. „Viele dieser erfolgreichen Mittelständler erwirtschaften mehr Geld auf dem Weltmarkt als in der Heimat. Junge Leute, die unternehmerisch denken und ihre Arbeitskraft nicht in langen Abstimmungsrunden oder Meetings vergeuden wollen, sind bei einem Mittelständler oft besser aufgehoben als bei einem Konzern. Auch wenn das Nachtleben in Borken nicht so spektakulär ist wie in Berlin, so gibt es bei uns andere Vorteile, die letztlich viel mehr zählen. Wer Wert legt auf ein persönliches Umfeld auch am Arbeitsplatz und eine gute Vereinbarkeit von Familienleben und Beruf, der ist bei uns in der Region sicher nicht schlecht aufgehoben“.
Stolz verweist Hadder darauf, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den vergangenen 20 Jahren über 2.000 Anlagen für Bauvorhaben in der ganzen Welt produziert hätten. Diese Leistung sei nur mit besonders qualifiziertem Personal zu stemmen. „Es ist also keine Lyrik, wenn ich betone, dass unsere rund 70 Mitarbeiter das wichtigste Kapital unseres Betriebs sind. Damit wir in puncto Innovationsfähigkeit nicht nachlassen, arbeiten wir eng mit wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen wie dem Fraunhofer Institut für Bauphysik in Stuttgart zusammen.“
Kein kleines Rädchen
Wer kein „kleines Rädchen“ im Räderwerk eines Konzerns sein will, sondern die Möglichkeit haben möchte, attraktive Verantwortungsbereiche, etwa in der Produktions-, Vertriebs-, kaufmännischen- oder IT-Leitung bereits in jungen Jahren zu leiten, sei bei solchen Unternehmen gut aufgehoben, so Kleinschneider. Auch wenn die Vergütung möglicherweise geringer ausfalle als in Großkonzernen, lockten in Regionen wie dem Westmünsterland deutlich geringere Kosten für Wohnen und Leben. Bei einem anstehenden Nachzug der Familien kümmern sich die Unternehmen auch zunehmend darum, für Partner und Familienangehörige ebenfalls attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden.
Doch es scheint so, als seien diese Vorteile noch nicht sehr bekannt. Wie wirbt die Wirtschaftsförderungsgesellschaft konkret für die Region? Es existiert ein zielorientiertes Regionenmarketing durch den neuen Verein „Münsterland e.V.“. Ein grenzüberschreitendes Projekt mit dem Arbeitstitel „Career Center“ wird vorbereitet, um die individuelle Betreuung von interessierten hochqualifizierten Arbeitskräften im Zuge eines Stellenwechsels zu ermöglichen. Es gibt Bemühungen um zusätzliche Studienmöglichkeiten in der Region, beispielsweise am Fachhochschulstandort Bocholt, in interessanten und zukunftsorientierten Feldern wie zum Beispiel Bionik.
Außerdem soll ein frühzeitiger Zugang von Schülern und Schülerinnen zu technischen Fragestellungen, z. B. durch das Projekt TEAM der Fachhochschulabteilung Bocholt oder durch das Projekt „Haus der kleinen Forscher“ des Vereins Netzwerk Westmünsterland e.V., sichergestellt werden. Eine regelmäßige enge Zusammenarbeit zwischen einzelnen Unternehmen und Schulen, gezielte Alumni-Aktivitäten an der Fachhochschulabteilung in Bocholt, um die Bindung der Hochschulabsolventen an die Region längerfristig und möglichst dauerhaft zu organisieren sowie die Zusammenarbeit von Unternehmen, um die Attraktivität der beteiligten Unternehmen und auch der Region für hochqualifizierte Arbeitskräfte zu verbessern, sind weitere Maßnahmen.
Fürs erste, so Kleinschneider, wäre es schon ein kleiner Erfolg, wenn der Begriff „Provinz“ nicht mit der Vokabel „hinterwäldlerisch“ assoziiert würde. Denn dies hat sie mit Sicherheit nicht verdient.
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