Ein Plädoyer für eine zügige gesetzgeberische Tätigkeit von Fachanwalt für Arbeitsrecht Alexander Bredereck, Berlin
Alexander Bredereck, Fachanwalt für Arbeitsrecht
Eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 21.7.2011 (Whistleblower-Fall, Heinisch ./. Bundesrepublik Deutschland, zuvor Heinisch ./. Vivantes Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg vom 28.3.2006, Aktenzeichen: 7 Sa 1884/05) hat für erhebliches Medieninteresse gesorgt. Hintergrund der allgemeinen Aufregung ist der Umstand, dass das nationale Recht keine klaren Regelungen für Arbeitnehmer enthält, die in ihrem Unternehmen Missstände entdecken und diese öffentlich machen, bzw. von Straftaten oder möglichen Straftaten im Unternehmen Kenntnis erlangen und diese zur Anzeige bringen wollen.
Die betroffenen Arbeitnehmer müssen eine Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses befürchten, wenn sie in einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben machen. Daneben lässt die Rechtsprechung auch weitere Sonderfälle zu, in denen eine (fristlose) Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber gerechtfertigt sein kann.
Diese Rechtslage ist für Arbeitnehmer schwer zu durchschauen. Selbst Arbeitsrechtler sind oft ratlos, wenn ein Arbeitnehmer vor ihnen sitzt, von dem Verdacht von Straftaten im Unternehmen berichtet und fragt was zu tun sei. Üblicherweise wird der Arbeitnehmer dann darauf hingewiesen, dass er sich zum einen selbst strafbar machen kann, wenn er Straftaten beim Arbeitgeber tatenlos zusieht. Zum andern muss man ihn aber auch darauf hinweisen, dass er im Fall einer Strafanzeige mit einer fristlosen Kündigung rechnen muss. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein, wenn sie einen begründeten Anfangsverdacht für das vorliegen einer Straftat hat. Häufig wird das Strafverfahren dann wieder eingestellt, weil dieser begründete Anfangsverdacht letztendlich nicht zu dem für die Eröffnung eines Strafverfahrens notwendigen hinreichenden Tatverdacht geführt hat. Der Arbeitnehmer verliert in einem solchen Fall möglicherweise seinen Job.
Diese Rechtsprechung führt in der Praxis dazu, dass man als Arbeitsrechtler Arbeitnehmer nur in solchen Fällen überhaupt zu einer Strafanzeige raten kann, in denen die Straftaten mit Sicherheit bewiesen werden können. Die Ermittlungsarbeit muss also vom Arbeitnehmer geleistet werden. Da Arbeitnehmer hierzu regelmäßig nicht in der Lage sind, bleiben viele Straftaten innerhalb der Unternehmen ohne Folgen. Das schadet der Allgemeinheit.
Wer ist an dieser problematischen Rechtslage Schuld? Sind es die Arbeitsgerichte? Der europäische Gerichtshof hat die Bundesrepublik Deutschland in der oben genannten Entscheidung zur Zahlung von 10.000 EUR Schadensersatz und 5000 EUR Prozesskosten verurteilt, weil „die deutschen Gerichte keinen angemessenen Ausgleich zwischen der Notwendigkeit, den Ruf des Arbeitgebers zu schützen einerseits und derjenigen, das Recht der Arbeitnehmerin auf freie Meinungsäußerung zu schützen“, andererseits, herbeigeführt haben. Dadurch hätten die deutschen Gerichte Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt.
Andererseits: Die Gerichte wenden nur das geltende Recht an. Und hier haben wir in der Bundesrepublik Deutschland nun eine ganz besondere Situation: In einem Land, in dem kraft Gesetz die Zahl der Apfelbäume in einem Kleingarten geregelt werden, und in dessen Bürgerlichem Gesetzbuch sich fast genauso viele Paragrafen mit Bienen und Bienenschwärmen beschäftigen, wie mit der Reglung des Arbeitsverhältnisses, lässt der Gesetzgeber derart wichtige und für den Arbeitnehmer Existenz bedrohende Probleme weit gehend ungeregelt.
In dem Konflikt, sich einerseits als Staatsbürger gesetzestreu zu verhalten und Straftaten, die ihm zur Kenntnis gelangen, anzuzeigen und anderseits als Arbeitnehmer existenziell auf seinen Job angewiesen zu sein, sind deutsche Arbeitnehmer weitgehend sich selbst überlassen. Der Gesetzgeber überlässt die Angelegenheit den Gerichten.
Bei den Gerichten hat man manchmal das Gefühl, sie wüssten selbst nicht so richtig, wie sie mit dem zitierten Widerstreit umgehen sollten. Im Zweifel soll dann die Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber wegen der „vertraglichen Rücksichtnahmepflicht“ der Loyalität dem Rechtsstaat gegenüber vorgehen.
Man könnte derartigen Erwägungen vielleicht noch folgen, wenn die Rechtsprechung aus deren Verletzung nicht folgern würde, dass damit dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar werden würde. Derartige Fälle werden letztlich nicht anders behandelt, als wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber das Tafelsilber stiehlt. Eine fristlose Kündigung ist sogar ohne Abmahnung zulässig. Hier liegt das eigentliche Problem.
Fazit: Der Gesetzgeber sollte endlich seine Aufgaben wahrnehmen und derart wichtige Probleme einer vernünftigen Regelung zuführen. Die Bedingungen, unter denen ein Arbeitnehmer Missstände im Unternehmen, jedenfalls aber mögliche Straftaten kundtun darf und die hieraus resultierenden möglichen Folgen für sein Arbeitsverhältnis müssen Teil einer hinreichend klaren und konkreten gesetzlichen Regelung werden. Der Arbeitgeber darf hierbei letztlich nicht schlechter dastehen, als die Ermittlungsbehörden. Insbesondere darf ihm bei dem Verdacht einer Straftat nicht die Ermittlungsarbeit übertragen werden.
Bis zu einer gesetzlichen Klärung sollten die nationalen Arbeitsgerichte ihre Praxis beenden, Arbeitnehmer, die in einer Konfliktsituation eine aus der Rückschau vielleicht falsche Entscheidung zu Strafanzeige gegen den Arbeitgeber getroffen haben, wie Straftäter zu behandeln.
Selbst eine leichtfertig falsche Strafanzeige gegen den Arbeitgeber ist nicht mit einer vorsätzlichen Straftat gegenüber dem Arbeitgeber vergleichbar. Anders ist dies nur dann, wenn der Arbeitnehmer nachweislich in bewusster Schädigungsabsicht und unter wissentlicher Angabe falscher Tatsachen handelt.
Ein Problem wird allerdings noch zu klären sein: Wie geht man damit um, dass es einem Arbeitgeber unzumutbar sein dürfte, einen Arbeitnehmer, der ihn im Nachhinein zu Unrecht einer Straftat bezichtigt hat, weiter zu beschäftigen? Wie geht man außerdem damit um, dass einem Arbeitnehmer, der seinen Arbeitgeber zu Recht einer Straftat bezichtigt hat, unzumutbar sein dürfte, in dem Unternehmen weiterzuarbeiten?
Das Arbeitsrecht kennt für solche Probleme bereits geeignete Instrumente. Sinnvoll wäre hier die jeweilige Möglichkeit eines der Vertragspartner das Arbeitsverhältnis durch einseitige Erklärung gegen Zahlung einer Abfindung zu beenden. Das man dafür unbedingt (wie bislang) eine Kündigung des Arbeitgebers und ein anschließendes gerichtliches Verfahren braucht, scheint nicht zwingend.
Ein Beitrag von Rechtsanwalt Alexander Bredereck, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
09.11.2011
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