1.Teilzeitbeschäftigte werden gegenüber Vollzeitbeschäftigten ungleich behandelt, wenn ein Tarifvertrag bestimmt, dass Überstundenzuschläge nur für Arbeitsstunden gezahlt werden, die über die regelmäßige Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten hinaus geleistet werden.
2. Liegen keine sachlichen Gründe für die Ungleichbehandlung vor, haben Teilzeitbeschäftigte Anspruch auf Zuschläge für Überstunden, die sie über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus leisten.
3.Ein Anspruch auf Entschädigung aufgrund mittelbarer Diskriminierung wegen des (weiblichen) Geschlechts kommt zusätzlich in Betracht, wenn innerhalb der betroffenen Gruppe der Teilzeitbeschäftigen erheblich mehr Frauen als Männer vertreten sind.
(BAG, Urteil v. 05.12.2024 – 8 AZR 370/20 und 8 AZR 372/20 – Pressemitteilung; Leitsätze der Verfasserin nach Vorabentscheidung durch den. EuGH v. 29.07.2014 – C – 184/22 und C-185/22)
Der Beklagte ist ein ambulanter Dialyseanbieter mit mehr als 5000 Beschäftigten. Die zwei Klägerinnen sind bei ihm teilzeitbeschäftigte Pflegekräfte. Aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme findet ein zwischen der Beklagten und der Gewerkschaft ver.di geschlossener Manteltarifvertrag Anwendung.
Nach § 10 Ziffer 6 MTV sind Überstunden auf dringende Fälle zu beschränken und möglichst gleichmäßig auf alle Arbeitnehmer zu verteilen. Nach § 10 Ziffer 7 Satz 2 MTV sind Überstunden, die über die monatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers hinaus geleistet werden und im jeweiligen Kalendermonat nicht durch Freizeitgewährung ausgeglichen werden können, mit einem Zuschlag von 30 % zuschlagspflichtig. Die Arbeitszeitkonten der Klägerinnen wiesen Ende März 2018 Arbeitszeitguthaben aus. Die Beklagte hat weder eine Zeitgutschrift vorgenommen noch Überstundenzuschläge gezahlt.
Mehr als 90 % der bei dem Beklagten in Teilzeit Beschäftigten, die dem persönlichen Anwendungsbereich des MTV unterfallen, sind Frauen.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG darf ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Diese Regelung geht auf § 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit im Anhang der europäischen Richtlinie 97/81/EG zurück. Erforderlich ist nach beiden Bestimmungen zunächst, dass Teilzeitbeschäftigte und Vollzeitbeschäftigte unterschiedlich behandelt werden. Das BAG hatte in seiner Vorlage an den EuGH Zweifel daran geäußert, ob überhaupt eine Ungleichbehandlung vorliegt, denn auch Teilzeitbeschäftigte hätten Anspruch auf Überstundenzuschläge, wenn sie die Regelarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten überschritten.
Dazu hat der EuGH entschieden, eine Ungleichbehandlung der Teilzeitbeschäftigten liege darin, dass sie die für den Erhalt von Überstundenzuschlägen erforderliche Arbeitszeit angesichts der vereinbarten Arbeitszeit nicht oder nur mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit erreichen könnten. Da sie für mindestens einen Teil der Arbeitsstunden, die sie über ihre regelmäßige Arbeitszeit hinaus leisteten, kei-nen Anspruch auf Überstundenzuschläge hätten, würden sie schlechter als Voll-zeitbeschäftigte behandelt.
Zur Frage, ob die Schlechterstellung durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist, hat das BAG dem MTV entnommen, der Arbeitgeber solle von der Anordnung von Überstunden abgehalten und Vollzeitbeschäftigte sollten gegenüber Teilzeitbeschäftigten nicht ungünstiger behandelt werden. Mit der Anknüpfung an die Re-gelarbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten hätten die Tarifvertragsparteien erreichen wollen, dass die gleiche bzw. eine gleichwertige Arbeit gleich vergütet wird, unab-hängig davon, ob sie von Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigten geleistet wird. Dazu verweist der EuGH darauf, dass sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung nur vorlägen, wenn dies einem echten Bedarf entspreche. Das Ziel, den Arbeitgeber von der Anordnung von Überstunden abzuhalten, werde aber tatsächlich durch die tarifvertraglichen Bestimmungen nicht erreicht. Vielmehr bewirkten sie einen finanziellen Anreiz für den Arbeitgeber, Überstunden von Teilzeitbeschäftigten bis zum Erreichen der Regelarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten anzuordnen.
Damit ergibt sich, dass die Klägerinnen ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes wegen ihrer Teilzeitarbeit schlechter behandelt wurden als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG haben sie daher Anspruch auf einen Zuschlag von 30 % für jede über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeitsstunde.
Zusätzlich hat der Arbeitgeber den Klägerinnen eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen, weil ihre Ungleichbehandlung im Vergleich mit den Vollzeitbeschäftigten eine mittelbare Diskriminierung wegen ihres Geschlechts ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes darstellt. Die Entschädigung hat das BAG auf 250 Euro für jede Klägerin festgesetzt. Die Voraussetzungen für eine Ungleichbehandlung der Klägerinnen wegen ihres Geschlechts liegen nach der EuGH-Rechtsprechung vor, weil der Beklagte ganz überwiegend Frauen in Teilzeit beschäftigt.
Fazit:
Viele Tarifverträge bestimmen, dass Überstundenzuschläge erst dann zu zahlen sind, wenn die Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten überschritten wird. Nun ist in der Rechtsprechung geklärt, dass vergleichbare Teilzeitbeschäftigte dadurch benachteiligt werden. Fälle, in denen die Diskriminierung wegen eines sachlichen Grundes gerechtfertigt ist, dürften selten sein. Wer Ansprüche geltend machen will, sollte an etwaige tarifvertragliche Ausschlussfristen und die Frist nach § 15 Abs. 4 AGG sowie an die 3-monatige Klagefrist des § 61b ArbGG denken.
Ingrid Heinlein, Vors. Richterin a. LAG a.D., Rechtsanwältin, Anwaltsbüro Windirsch, Britschgi und Wilden
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